Warum Erwachsene aufhören müssen, sich darüber zu beschweren, wie Kinder Technologie nutzen.

Ihre Gewohnheiten spiegeln einfach unsere eigenen wieder.

 

Die Türen schlagen schnell zu, wenn mein Sohn von der Schule nach Hause zurückkehrt. Er ist nicht wütend oder deprimiert, aber er scheint sich an den Nachmittagen unter der Woche nach etwas Zeit für sich allein zu sehnen. Ich schätze, er sucht nach Möglichkeiten, sich vom sozialen Stress des Schulalltags zu befreien. Und er tun das am liebsten online. Ich habe Verständnis dafür, aber ich kann auch nur meinem Ärger freien Lauf lassen.

Innerhalb weniger Minuten höre ich aus dem Smartphone meines Sohnes das dumpfe Geräusch von YouTube-Videos. Nach einer Weile wechselt er aus der Zuschauerrolle, und ich zucke zusammen, wenn ich ihn in seine Kopfhörer schreien höre, während er und seine Freunde aus der Schule Multiplayer Spiele spielen. Seine übermäßig enthusiastische Unterhaltung imitiert den Trash-Talk, den Humor und die Ausrufe, die er andauernd von den beliebtesten Video-Streaming-Stars des Internets hört. Ich verdrehe die Augen.

Ich sitze typischerweise am Tisch, versuche auf E-Mails zu antworten und mein Tagespensum zu bewältigen. Meine Frau bereitet währenddessen das Mittagessen vor. Aber die pubertierende Stimme unseres Sohnes lenkt uns ab. Der Gebrauch von Slang, Idiomen und Insiderwitzen ist geradezu irritierend. Außerdem sind wir es leid, ihn anzuschreien, “achte auf Obszönitäten”. Also setze ich meine Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung auf und starte Pzizz, eine App, die eine Klangumgebung erzeugt, mit einem Algorithmus entwickelt, der Fokussierung und Produktivität fördert. Manchmal muss ich nur allein sein; ich brauche einen Weg, den Kinderkram zu ignorieren.

Wenn sich Kinder stundenlang auf Bildschirme konzentrieren, machen sich die Eltern Sorgen. Aber es ist genau das, was wir für gutes professionelles Verhalten halten.

Fast alles an der Spielkultur der Jugend ärgert mich. Aber mein Sohn und ich haben viel gemeinsam und ich sehe die Ironie in unseren parallelen Angewohnheiten.

Zum Ersten – Konsum: Mein Rechner und meine Kopfhörer – gekauft, nachdem ich jede Menge Online-Produktbewertungen gelesen habe – unterscheiden sich nicht von YouTube-Star PewDiePies „Clutch Throttle Series Gaming Chair“ und seinem „Cat-Ear Razer Kraken“ Headset. Dann sind da noch die vielen Stunden, die er jeden Tag damit verbringt, auf einen Bildschirm zu starren. Ich kann mein Kind kritisieren, aber letztendlich verhält es sich ähnlich wie ich selbst. Wenn Kinder stundenlang auf Bildschirme starren, machen sich die Eltern Sorgen. Aber es ist genau das, was wir für gutes professionelles Verhalten halten.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat kürzlich die 11. Ausgabe der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) genehmigt, einem globalen Standard für die Diagnose, Berichterstattung, Kategorisierung und Erforschung von Gesundheitsbedingungen. Die Aufmerksamkeit der Medien konzentrierte sich vor allem auf die Entscheidung der WHO, “Gaming Disorder” (Spielsucht) in das überarbeitete Handbuch aufzunehmen, und es wurde viel über die Einbeziehung des arbeitsbedingten “Burnouts” durch die ICD-11 berichtet. Diese beiden Klassifizierungen sind nicht die einzigen Änderungen, die im neuen ICD vorgenommen wurden, doch sie haben die größte Aufmerksamkeit erregt. Warum? Weil sie unsere Angst, Verwirrung und Missverständnisse über den Zusammenhang zwischen digitaler Technologie, Work-Life-Balance und psychischem Wohlbefinden wiederspiegeln.

Laut ICD-11 definiert sich “Spielsucht” als: so viel Zeit mit dem Spielen von Videospielen verbringen, dass es “Vorrang vor anderen Interessen und täglichen Aktivitäten hat”. “Burnout” ist das, was passiert, wenn Menschen bei der Arbeit so gestresst sind, dass sie negative “Gefühle oder Zynismus” und “reduzierte berufliche Effizienz” erleben. Mit anderen Worten, die Spieler verbringen zu viel Zeit mit ihren Bildschirmen, während die „Burnouts“ so distanziert und erschöpft sind, dass sie ihre Bildschirme gar nicht mehr benutzen können. Wenn sich unsere Kinder auf ihre Bildschirme konzentrieren, sorgen wir uns um ihre Gesundheit. Aber tatsächlich zeigen Erwachsene dieses Verhalten täglich.

Nach Angaben des United States Bureau of Labor Statistics werden bis 2020 75% der Arbeitsplätze die Nutzung eines Computers erfordern. Und einige der lukrativsten Jobs in den USA erfordern eine besonders hohe Computerpräsenz. U.S. News und World Report setzte “software developer” auf Platz 1 der „Overall Best Jobs“ im Jahr 2019. Viele der anderen Spitzenreiter auf der Liste zeichnen sich ebenfalls als Berufe mit hoher Bildschirmzeit aus:  Analyst in der Informationssicherheit, IT-Manager, Statistiker, Accountant, Marketingmanager, etc. Das Ranking bezieht sich nicht nur auf das Gehalt, sondern berücksichtigt auch Work-Life-Balance, Stressniveau, Wachstumsaussichten und andere Faktoren, die mit der allgemeinen Arbeitszufriedenheit zusammenhängen. Wir mögen Berufe, die ein langes Sitzen vor dem  Bildschirm erfordern. Also – warum beschweren wir uns dann so sehr über die Bildschirmzeit unserer Kinder? Versuchen wir, die Unschuld unserer Kinder zu bewahren? Geht es darum, sie vor der Schamlosigkeit der „Erwachsenenarbeit“ zu schützen? Vielleicht. Aber wenn das der Fall ist, zeigt das eine seltsame Verschiebung der Einstellung.

Sind wir unzufrieden mit der monotonen Fleißarbeit einer Bildschirmzeit - economy? Oder sind wir vollkommen zufrieden mit der Art und Weise, wie wir unser Berufsleben gestaltet haben?

Traditionell haben wir unsere Kinder ermutigt, in sich mit an einer „Scheinarbeitswelt“ zu beteiligen, insbesondere damit sie auf ein gut angepasstes Berufsleben in einem spezifischen wirtschaftlichen und technologischen Kontext vorbereitet sind. Wir geben ihnen Ärztesets, Registrierkassen, Werkzeugsets und Traktoren zum Spielen. Barbie hat im Laufe der Jahre viele verschiedene Karrieren durchlaufen, jede passend zu ihrer geschichtlichen Epoche – sie war Astronautin (1965), Chirurgin (1973), UNICEF-Botschafterin (1989), Kunstlehrerin (2002), Präsidentschaftskandidatin (2004), Fernsehkoch (2008) und so weiter.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden an Jungs vermarktete Chemiekästen beliebt, zu einer Zeit, als Kunststoffe und Atomenergie unsere Wirtschaft verändern sollten. Der erste war „Chemcraft“ – entworfen von John J. Porter im Jahr 1914. In einer Gesellschaft, die Superstar-Chemiker wie Louis Pasteur und Otto Hahn anstelle von Steve Jobs und Elon Musk gefeiert hat, glaubten die Eltern vermutlich, dass das frühzeitige und ehrgeizige Heranführen der Kinder an innovative neue Technologien ihre Nachkommen fest in lukrative Beschäftigung und elitären sozialen Status  heben würde. In den 60er Jahren wurden die Mädchen dazu angehalten, ihre häuslichen Fähigkeiten mit den Miniaturen von Suzy Homemaker oder den „easy“ – Backöfen von Hasbro zu üben. Heutzutage lehnen die meisten Menschen Spielzeug ab, das problematische Voreingenommenheit über Geschlecht und Gleichheit verstärkt. Ein Beweis dafür, dass wir die Fähigkeit des fantasievollen Spiels erkennen, das die Erwartungen und Einstellung unserer Kinder, wie das Leben eines Erwachsenen gelebt werden sollte, normalisiert.

Aber wie sollte das Leben eines Erwachsenen unserer Meinung nach gelebt werden? Meistens verraten unsere Handlungen unsere Rhetorik. Erwachsene lieben es, Kindern zu sagen, dass sie mehr Zeit draußen verbringen sollten und meckern herum, dass kein Kind sich jemals an seine große Zeit des Sendens und Empfangens von Textnachrichten erinnern wird. Aber Eltern verbringen mehr Zeit im Haus als ihre Kinder. Sicher, wir lieben es auch, über Wanderungen und Outdoor-Abenteuer auf Instagram zu berichten. Aber im Durchschnitt verbringen Amerikaner etwa 90% ihrer Zeit Indoor – eine Zahl, die in den letzten Jahrzehnten konsistent geblieben zu sein scheint (die Zeit, für die Daten existieren).

Ein Großteil unserer Indoor-Zeit verbringen wir an Arbeitsplätzen, die genauso aussehen wie die Schreibtische, an denen mein Sohn Videospiele spielt und YouTube-Videos ansieht (Erwachsene sitzen jeden Tag etwa 6,4 Stunden). Das ist kein Zufall. Büros wurden bewusst so konzipiert, dass sie die Spitzenproduktivität und -konzentration fördern, die wir mit gesundem, gut angepasstem und erfolgreichen Erwachsenenleben verbinden. Zuerst benutzte Frederick Winslow Taylor bekanntermaßen eine Stoppuhr, um präzise Daten über die Effizienz am Arbeitsplatz zu sammeln. Dann entwarf Frank Lloyd Wright 1903 das Larkin Administration Building und führte architektonische Innovationen ein, die auf die Maximierung der Produktivität und die Stärkung der Unternehmenskultur ausgerichtet waren. Und in den 60ern erfand Robert Probst das “Action Office” – den original “Arbeitsplatz”, der Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Privatsphäre bieten sollte, notwendig um die “Wissensarbeit” zu erledigen. Nikil Saval, Autor von Cubed: A secret history of the workplace erklärt, dass es in Probsts “ursprünglichem Würfel um Befreiung ging“. Die Menschen brauchten Räume, die sie von ihren Kollegen trennten.

Heute sitzen in fast jedem Büro die meisten Mitarbeiter in einem Raum, der genauso aussieht wie der Schreibtisch, an dem mein Junge digital spielt. Und obwohl sich viele Eltern darüber beschweren, dass unsere Kinder isoliert sind – sie glauben, dass Online-Interaktion auf gar keinen Fall eine freundliche Art und effektives feedback liefern kann, um positive soziale Fähigkeiten zu fördern. Denken Sie daran, dass Erwachsene ständig ihren Unmut zu persönlichen Treffen zum Ausdruck bringen. Laut einer Umfrage im Harvard Business Journal gaben 71% der Führungskräfte an, dass “Meetings unproduktiv und ineffizient sind”. Die meisten von uns ziehen es vor, in einem Kokon der Einsamkeit zu verschwinden und wir haben unser Erwachsenenleben so gestaltet, dass das auch möglich ist.

Zwischen langen Perioden mit stark reduzierter Beschäftigung klicke ich durch meine Browser-Tabs, checke Social Media und hoffe, den Dopamin Rausch zu spüren, der mit dem Finden einer Benachrichtigung einhergeht.

Die Ähnlichkeiten zwischen meinem digitalen Verhalten und dem meines Kindes ist augenscheinlich: Durchhängen ist vergleichbar mit Disharmonie. Die meisten meiner Meetings finden jetzt über Skype oder Zoom statt, und ich trage ein Headset, wobei die Webcam mich wie einen YouTuber aussehen lässt. Zwischen langen Perioden mit stark reduzierter Beschäftigung klicke ich durch meine Browser-Tabs, checke Social Media und hoffe, den Dopamin Rausch zu spüren, der mit dem Finden einer Benachrichtigung einhergeht. Dann lese ich die Nachrichten für ein paar Minuten, um sicherzustellen, dass ich keine guten Videoclips von Donald Trump oder Nancy Pelosi verpasst habe: Memes für Erwachsene. Ich bin mit meinem Berufsleben sehr zufrieden und habe nicht wirklich den Wunsch oder die Motivation, meinen Alltag zu verändern.

Sicher, manchmal sieht es so aus, als wäre die Quelle der elterlichen Bildschirmzeitangst unser Missfallen darüber, wie unsere Kinder unser eigenes Verhalten wiederspiegeln. Es ist einfacher, Videospiele zum Sündenbock zu machen, als einen langen kritischen Blick auf uns selbst zu werfen. Aber es ist nicht wirklich so einfach, oder? Denn selbst wenn wir uns selbst betrachten, sind wir verwirrt über das, was wir sehen. Sind wir unzufrieden mit dem monotonen, geschäftigen Arbeiten einer Bildschirmzeit-economy? Oder sind wir mit der Art und Weise, wie wir unser Berufsleben gestaltet haben, vollkommen zufrieden? Noch verwirrender wird es, wenn Eltern gesagt wird: Schauen Sie sich Ihre eigene Beziehung zur digitalen Technologie an und denken Sie darüber nach, wie Sie Ihren Kindern bessere Beispiele geben können. Aber wir lieben unsere eigenen digitalen Verhaltensweisen genauso sehr wie wir sie ablehnen.

Vielleicht braucht mein Kind also wirklich mehr Bildschirmzeit - mehr Praxis in der Entwicklung von Strategien, um den ganzen Tag auf den Bildschirm starren zu können, ohne "Burnout" zu bekommen.
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